Dokumentation der Redebeiträge
Wir sind hier an einem Platz zusammen, an dem sich auch heute obdachlose Menschen tagsüber aufhalten und an dem sie auch jetzt ihre Nächte verbringen.
Ich versuche mir vorzustellen, wie das ist – damals vor zwanzig Jahren.
Eckard Rütz ist hier alleine. Am späten Abend. Sein Tag ist zu Ende. Er hat vor, hier an der Mensa auf einer Bank zu schlafen. Er hat keine Wohnung. Es ist kalt.
Da kommen drei junge Neonazis auf ihn zu. Nie hat er einem von ihnen etwas getan. Er wird von ihnen beschimpft.
Dann haben sie Holzpfähle in ihren Händen. Und schlagen damit auf ihn ein. Immer wieder. Überall hin. Er bricht zusammen. Sie treten auf ihn ein.
Dann gehen sie. Alles an ihm schmerzt. Er kann sich nicht bewegen. Keiner ist da, der ihm hilft. Aber er lebt. Noch.
Dann kommen die Nazis zurück. Treten wieder zu. Ein Tritt trifft seinen Kopf. Alles wird schwarz. Sein Leben ist zu Ende.
Ich kann es mir nicht vorstellen.
Nazis meinen, bestimmen zu können, wer ein Recht auf Leben hat und wer nicht. Mehr noch: Sie meinen bestimmen zu können, wen sie am Leben lassen und wen sie umbringen.
Noch mehr: Sie tun es dann wirklich und bringen Menschen um.
Das war so vor achtzig Jahren. Das war so vor zwanzig Jahren. Und nichts hat sich daran geändert.
Vor achtzig Jahren mordeten sie auch um einer vermeintlichen Volksgesundheit willen. Heute reden sie von einer vermeintlichen Gesundheitsdiktatur, und meinen wieder das Gleiche: Sie hätten mehr Recht auf das Leben als andere.
Ich bin hier, weil es ein gleiches Recht auf Leben aller Menschen gibt.
Weil ich denke, dass wir darauf angewiesen und dazu aufgefordert sind, füreinander da zu sein und aufeinander zu achten.
Weil wir uns erinnern müssen, dass hier Eckhard Rütz erschlagen wurde.
Wir müssen daran erinnern, dass das Recht auf Leben für eine jede und einen jeden zwar für uns eine Selbstverständlichkeit ist – aber dass dieses Recht bedroht ist.
Wir müssen an die Opfer erinnern und auf die Täter zeigen.
Wir müssen an die Menschenrechte erinnern und auf Rassismus, Antisemitismus und Faschismus zeigen.
Vielleicht hilft es dabei, solche Morde zu verhindern.
Und Menschen zu achten und Vielfalt zu bejahen und Toleranz zu stärken.
Vor mehr als 2500 Jahren hat es jemand aufgeschrieben: „Liebe deinen Mitmenschen. Er ist wie Du.“
Es gibt jüdische Gelehrte, die sagen: Das ist die Mitte der Thora. Die Mitte all dessen, was ich von Gott verstehen kann. Die Mitte unseres Zusammenlebens.
„Liebe deinen Mitmenschen. Er ist wie Du.“
Ich stelle mir vor, wie das ist.
(Michael Mahlburg, Pastor St. Jacobi Greifswald)
Heute gedenken wir Eckard Rütz, dessen Leben an dieser Stelle vor 20 Jahren auf grausame Art beendet wurde, dem durch drei junge Neonazis jegliche Möglichkeit genommen wurde, seine Träume zu leben und seine Ziele zu erreichen. Wir erinnern an ein Verbrechen, das in seiner Brutalität so erschreckend ist, dass man sich nur schwer vorstellen kann, dass es zur damaligen Zeit nicht für sich alleine stand.
In den Monaten vor der Nacht im November 2000, in der Eckard Rütz vor nunmehr 20 Jahren ermordet wurde, fielen in Mecklenburg-Vorpommern mit Klaus-Dieter Gerecke, Jürgen Seifert und Norbert Plath mindestens drei weitere Menschen den tödlichen Übergriffen von Neonazis zum Opfer, weil sie aus Sicht der Täter*innen „störten“ oder für sie schlichtweg minderwertig waren. Zwischen 1996 und 2002 sind in Mecklenburg-Vorpommern mindestens acht Fälle bekannt, bei denen die Verachtung gegenüber Wohnungs- oder Arbeitslosen oder gegenüber Suchtkranken dazu führte, dass Menschen ermordet wurden.
Die Jahre um 2000 blieben vielen Betroffenengruppen als die Zeit der eskalierenden rechten Gewalt in Erinnerung. Die NPD als damals zentraler Akteur der deutschen Neonaziszene benannte 1997 den Kampf um die Straße als einen zentralen Punkt ihrer politischen Agenda und aktivierte junge Neonazis im gesamten Bundesgebiet dies umzusetzen, auch die freien Kameradschaften und Naziskins in Mecklenburg-Vorpommern. Ihr Ziel war es den öffentlichen Raum zu dominieren und national befreite Zonen zu schaffen. Angriffe auf Asylsuchende und Migrantinnen, wohnungs- oder arbeitslose Menschen, politische Gegnerinnen und andere Menschen, die nicht in das enge Weltbild der Neonazis passten, waren an der Tagesordnung und zunehmend von hemmungsloser Brutalität gezeichnet. Für viele Betroffenengruppen dieser eskalierenden Gewalt war es eine Zeit der Angst.
Wenige Monate vor dem Mord an Eckard Rütz rief der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder den „Aufstand der Anständigen“ aus. Es gab Demonstrationen und Lichterketten gegen rechts, von staatlicher Seite wurden erstmals Programme gegen rechte Gewalt, für Demokratie und Toleranz gefördert und unterstützt. In den östlichen Bundesländern entstanden dadurch die ersten spezialisierten Beratungsstellen für Betroffene rechter Gewalt. Doch ein gesellschaftliches Umdenken, das über die Problematisierung der Zustände und einer oberflächlichen Solidarisierung mit den Betroffenen hinaus ging, fand nicht statt. Das im Sommer vor 20 Jahren nach dem Mord an Klaus-Dieter Gerecke noch tausende Menschen in Greifswald gegen rechte Gewalt demonstrierten hielt die Angreifer von Eckard Rütz nicht davon ab, einem Menschen mit äußerster Brutalität das Leben zu nehmen – mitten in der Stadt. Einen Aufstand gab es nach diesem erneuten Mord nicht – kein offizielles Begräbnis, keine Gedenkkundgebung, einen Ort des Gedenkens erst sieben Jahre später.
Dass wir heute gemeinsam hier stehen, hat damit zu tun, dass das Motiv des Mordes an Eckard Rütz in all seiner Abscheulichkeit bekannt wurde. Weil der Mord an Eckard Rütz als rechte Gewalttat und somit als Angriff auf die Gesamtgesellschaft – im Gegensatz zu vielen anderen Taten – offiziell anerkannt ist.
Vor allem aber stehen wir hier, weil das Bündnis „Schon vergessen?“ das Gedenken an Eckard Rütz nicht als bloßes Ritual versteht, sondern weil Menschen aktiv erinnern wollen, damit es sich nicht wiederhole. Weil uns bewusst ist, dass jede Form rechter Gewalt eine tödliche, eine vernichtende Dimension hat. Weil wir wissen, dass es längst nicht mehr nur die Neonazis aus NPD und Kameradschaften sind, die Hass säen und nur darauf warten, dass jemand zur Tat schreitet – wir wissen, dass wir als Gesellschaft nicht aufgeklärter sind als vor 20 Jahren und dass der Hass, die Verachtung viel tiefer verankert zu sein scheint. Weil wir gelernt haben, dass Momente des Innehaltens wichtig sind, aber auch, dass Lichterketten davor weder schützen, noch heilen – weder die Menschen, die heute täglich rechten Anfeindungen und Angriffen ausgesetzt sind, noch Eckard Rütz und den anderen Menschen, deren Leben in Mecklenburg-Vorpommern von rechten Mördern beendet wurde. Was wir für sie tun können, ist, den Wunsch der Täter*innen, ihre Opfer auszulöschen, sie verschwinden zu lassen, nicht zu erfüllen und immer wieder zu Gedenken und zu Erinnern an Dragomir Christinel, Boris Moraweck, Horst D., Jürgen Seifert, Norbert Plath, Horst Meyer, Fred Blank, Mohammed Belhadj, Klaus-Dieter Lehmann, Horst Gens, Wolfgang Hühr, Mehmet Turgut, Karl-Heinz Lieckfeldt, Klaus Dieter Gerecke und Eckard Rütz.
(LOBBI – landesweite Opferberatung, Beistand und Information für Betroffene rechter Gewalt in MV)